08/08/2024 0 Kommentare
Weihnachten in der ZUE Soest
Weihnachten in der ZUE Soest
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Weihnachten in der ZUE Soest
Weihnachten 2021 in der ZUE Soest | Superintendent Manuel Schilling
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Vorwort
Soest ist eine Sehenswürdigkeit: mittelalterliche Kirchen in Steinwurfnähe voneinander entfernt, verwinkelte Fachwerkgassen, ein Wall und ein Stadttor. Die Touristen kommen von weither, auch aus Belgien. Das letzte Haus der Stadt Soest, wenn man nach Süden fährt, ist eine Kaserne. Die Kanaal-van-Wessem-Kaserne. Jahrzehntelang lebten dort belgische Soldaten. Dann stand sie leer, verwilderte, verwaiste, ergraute. Jetzt strahlt sie wieder, und wieder bietet sie Platz für internationalen Besuch. In den frisch renovierten und neu ausgebauten Gebäuden leben Menschen auf Zeit. Sie haben es sich nicht ausgesucht. Es sind Flüchtlinge, die auf ihre Anerkennung als Asylsuchende warten. Was in anderen Bundesländern als „Ankerzentrum“ bekannt – und berüchtigt – ist, heißt in Nordrhein-Westfalen ZUE, „Zentrale Unterbringungseinheit“. Ein Ort, ganz nah an der Stadt Soest, und doch eine andere Welt. Eine Erfahrung der ganz anderen Art konnte ich, Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Soest-Arnsberg, mit Mitarbeitern zum Weihnachtsfest 2021 machen.
Dienstag, 14.12.21 – 10 Tage vor Heiligabend
In einer Zoom-Sitzung berichten die Diakoniepfarrerin und die Flüchtlingsbeauftragte unseres Kirchenkreises, dass in der ZUE Soest mittlerweile bis zu 900 Menschen aufgenommen worden sind.
Die ZUE in Soest wurde im April 2021 eröffnet. Zwar ist die Einrichtung für maximal 1200 Menschen ausgelegt, aber schon mit 900 Personen ist das Leben für die dort untergebrachten Menschen beschwerlich, eine Form von Privatsphäre fast unmöglich. Die Verweildauer in diesen Einrichtungen kann über mehrere Monate, ja mehr als ein halbes Jahr betragen.
Die beiden Mitarbeiterinnen meines Kirchenkreises berichten zudem, dass auf dem Gelände wegen der neu steigenden Ansteckungszahlen die Corona-Schutzvorschriften verschärft worden sind. Die Zusammenarbeit mit externen Partnern wie der Kirche muss vorerst ruhen. Das ist nachvollziehbar. Am nächsten Morgen lese ich in der Zeitung von einer Schlägerei in der ZUE. Die Einrichtungsleitung erklärt, die Nerven lägen bei den Bewohnern blank. Eigentlich seien Aktionen von Ehrenamtlichen, die für Ablenkung sorgten und zu Außenkontakten führten, dringend nötig. Ein Dilemma.
Die Nacht darauf schlafe ich schlecht. Es fällt mir schwer mir vorzustellen, in der warmen Kirche an Weihnachten zu beten und im geschmückten Haus drei Tage zu feiern, in der ZUE aber findet Weihnachten nicht statt.
Mittwoch, 15.12.21
Morgens im Büro rufe ich bei der Verantwortlichen für die ZUEs bei der Arnsberger Bezirksregierung an. Frau H. hatten wir schon im letzten Herbst bei unserem Besuch kennengelernt. Sie hatte uns damals ausdrücklich ermutigt, als Kirche uns in der ZUE zu engagieren. Da das nicht in allen ZUEs unbedingt erwünscht ist, waren wir skeptisch geblieben. Nun aber bleibt Frau H. bei ihrem Wort. Nach kurzer Bedenkzeit erhalten wir pragmatisch die Auskunft: Gerne können wir in der ZUE eine Andacht halten, müssen nur dabei die Coronaschutzbestimmungen dort einhalten. Die Details sind mit dem Betreiber der ZUE, den Maltesern, zu klären.
Jakob S., der sogenannte Umfeldmanager für die ZUE, zeigt sich am Telefon genauso unkompliziert. Ihm leuchtet ein, dass eine Andacht den isolierten Menschen dort guttun könnte. Wir einigen uns auf den Heiligabend, 15.00 Uhr. Wir können die große Kantine nutzen, die für 600 Personen ausgelegt ist. Dieser große Raum ist nötig, um den Abstand zwischen den Bewohnern einzuhalten. Denn die ganze Belegung der ZUE ist in drei Corona-Kohorten eingeteilt. Das soll eine Massenansteckung verhindern. Mit wieviel Menschen können wir rechnen? Herr S. ist unsicher. Viele Personen sind nicht zu erwarten. Die Religions-zugehörigkeit wird bei der Aufnahme in die ZUE nicht abgefragt. In jedem Falle stellen Muslime die deutliche Mehrheit. Von den Christen wiederum könnten einige über die Festtage das Gelände verlassen haben, alle diejenigen, die Bekannte oder Verwandte und genügend Geld für eine Zugfahrt haben. Und von den Verbliebenen könnte vielleicht die Hälfte kommen. Man muss ja bedenken, der Termin ist neu und wird sehr kurzfristig mitgeteilt. Also zehn Personen werden es bestimmt. Andererseits passiert ja auch nicht viel in der ZUE. Es könnten durchaus Besucher aus reiner Neugierde kommen. Schon öfter seien bei christlichen Angeboten Muslime erschienen. Herr S. habe diese Muslime als tolerant erlebt. Und die Malteser genössen bei den Muslimen sogar einen ganz guten Ruf, eben weil sie religiös gebunden seien. Vielleicht werden es am Ende 100.
Wir einigen uns auf die Zahl 50. So viele sind realistisch zu erwarten. Darauf stellen wir uns ein. Wir verbleiben, dass ich die Andacht vorbereite, die Musik organisiere und Übersetzer für das Englische und das Französische mitbringe. Die Malteser bereiten die Kantine vor und informieren die Bewohner mit Aushängen.
Acht Tage vor Heiligabend
Die KollegInnen in der Stadt sind mit dem Vorhaben einverstanden. Sie selbst sind mit Gottesdiensten eingedeckt. Dazu kommen die ganzen digitalen Angebote, die sie erstellen müssen. Dasselbe gilt für die KirchenmusikerInnen, die haupt- wie die neben- und ehrenamtlichen. Die Ehrenamtlichen in den Gemeinden sind mit Corona-Schutzmaßnahmen ausgebucht. Ich bewundere die Gemeinden, die vor dem zweiten Weihnachten unter Coronabedingungen so viele phantasievolle Aktionen entwickeln, um die Menschen zu erreichen. Dafür braucht es Mut.
Die KollegInnen freuen sich, wenn ich diesen zusätzlichen Dienst annehme. Ein Kollege vermittelt den Kontakt zu Waltraud S., einer älteren Dame, die Sopranblockflöte spielt. Sie wohnt gegenüber der ZUE und wollte schon seit Monaten dort ehrenamtlich tätig werden.
Eine Blockflöte reicht nicht. Ein E-Piano müsste her. Wir haben keines. Auch braucht es Übersetzer. Da ich erst seit kurzem in der Stadt wohne und nur wenige Leute kenne, frage ich meine Familie. Meine Frau Béatrice – sie kommt aus Frankreich – ist bereit, ins Französische zu übersetzen, unser Dritter, Paul, ins Englische. Myriam liest die deutschen Lesungen. Jacob spielt Klavier, Johann wird sich zuhause um Emily kümmern. Es kommt mir schon ein wenig komisch vor, wie unsere Familie hier das traditionelle Klischee des evangelischen Pfarrhauses bedient. Sei’s drum, ich bin froh drum, dass alle mitziehen.
Sieben Tage vor Heiligabend
Pfarrerin Ziemssen aus Geseke teilt mir mit, sie habe über die Flüchtlingsbeauftragte von der Andacht in der ZUE erfahren. Die Gemeinde in Geseke gewährt seit Jahren immer wieder Flüchtlingen Kirchenasyl. Derzeit leben im Gemeindehaus zwei junge Männer, die selbst lange in einer ZUE vergeblich auf ihre Anerkennung als Asylbewerber hatten warten müssen. Nun sitzen die zwei Flüchtlinge in Geseke fest. Pfarrerin Z. erklärt am Telefon, die Kirchengemeinde Geseke und ihre Gäste würden sich eine kleine Überraschung für die Flüchtlinge in der ZUE ausdenken.
Umfeldmanager Jakob S. hat weniger gute Nachrichten in Bezug auf die Technik. Es wird vermutlich keine elektrische Verstärkung geben. Aber bei 50 Personen sollte es auch ohne Mikro gehen.
Vier Tage vor Heiligabend
Ein Soester Kollege hat nachgefragt. In seiner Gemeinde wird auch das E-Piano für den Heiligabend benötigt. Er selber aber hat ein ordentliches E-Piano zuhause. Wir können es am Heiligabend morgens abholen, bevor er zu seinem ersten Gottesdienst aufbricht.
Ich sende allen Beteiligten den Ablauf der Andacht zu.
Jacob ist mit dem Ablauf einverstanden. Er hat ein eigenes Weihnachtslied für diesen Anlass geschrieben, schön einfach und in heutiger Alltagssprache.
Dienstag, 21.12.21
In meinem Büro stehen zwei große Umzugskartons, voll mit Spritzgebäck und Spekulatius, coronatechnisch einwandfrei in durchsichtige Plastikbeutelchen eingepackt und mit einem hübschen farbigen Band zugeknotet. Das waren Filimon, Javid und Ali, zusammen mit Mitgliedern der Kirchengemeinde Geseke.
Emily findet die Vorstellung, jemand könnte zu Weihnachten keine Geschenke bekommen, inakzeptabel. Sie möchte gerne die Plätzchen an die Leute verteilen. Emily ist noch nicht geimpft. Kann sie trotzdem auf das Gelände?
Donnerstag, 23.12.21
Ich verlasse das Büro. Alle Texte, alle Gebete, alle Lieder sind bis ins letzte Wort abgesprochen und abgetippt. Es wird sowieso noch überraschend genug werden. Da ist es gut, wenn unser Part steht. Am Nachmittag kommen Johann und Paul aus ihren Uni-Städten, und wir können alles durchsprechen. Jacob wird erst am Heiligabend eine Stunde vorher zu uns stoßen. Eine Probe wird es nicht geben.
Heiligabend, 14.30 Uhr
Der Bulli startet von zuhause. 10 Minuten zu spät. So wie in früheren Jahren, als die Kinder noch klein waren, dauert es länger als gedacht, alle sieben Personen und das Material pünktlich ins Auto zu kriegen.
Emily und Johann kommen mit. Am Vortag hatte Jakob S. angerufen. Noch am letzten Tag vor den Ferien hatte er jemanden von der Bezirksregierung erwischt, und der hatte für Emily grünes Licht gegeben.
Im Auto stellen wir fest: wir haben die Kerzen und eine englische Bibel vergessen. Das mit der Bibel ist kein Problem. Paul wird sich den Text aus dem Internet ziehen.
14.40 Uhr
Durch die beschlagenen Fensterscheiben tauchen die großen Kasernengebäude aus dem Regen auf. Da kann auch die knallgelbe Farbe nichts machen. Das Ganze wirkt trostlos. Die Schranke hebt sich. Der Herr hinter dem Glasfenster winkt den Bulli nach kurzer Prüfung von Personalausweisen und Impfpässen durch.
Ich erinnere mich an Joringel. Ich muss sechs Jahre alt gewesen sein. Mama bügelte, und ich saß vor ihr auf dem Boden und hatte das Märchenbuch aufgeschlagen, per Zufall die Seiten mit Jorinde und Joringel. Auf einmal verstand ich die Zeichen, die da gedruckt waren.
Ich konnte lesen. Ich las von Joringel, der die gefangene Jorinde sucht. Er findet eine blaue Zauberblume, die ihm alle Türen zum Verlies seiner Geliebten aufspringen lässt. Diesen Moment, als ich zum ersten Mal las, und das, was ich da las, werde ich nie vergessen. Jetzt kommt es mir vor, als hätte ich diese Zauberblume in der Hand. Wir dürfen hinein in die ZUE. Vom ersten Telefonat mit Jakob S. bis zu den Mitarbeitern hie an der Pforte sind alle kooperativ. Mein Bild von der Festung ZUE gerät ins Wanken. Gleichzeitig frage ich mich auch: warum war das bis jetzt bei den anderen ZUEs in der Gegend nicht möglich? Warum trafen meine Mitarbeiterinnen auf so viele Widerstände? Es bleibt ein Rätsel – oder ein Wunder.
Der Bulli fährt über den weiten Appellplatz zur Kantine, die langgestreckt am hinteren Ende liegt. Waltraud S. wartet dort schon auf uns.
Wir treten in die Kantine, ein großer leerer Saal, von Neonröhren hell erleuchtet. Gerade hat der letzte Bewohner sein Mittagessen eingenommen. Mitarbeiter des Reinigungsdienstes haben alle Tische fortgeräumt und wischen den Boden. Auf die noch feuchten Fliesen stellen sie im Sicherheitsabstand ungefähr dreißig Stühle. Weihnachtsgemütlichkeit sieht anders aus.
Mittig vor den Stühlen steht ein Esstisch, mit einem weißen Gummituch bedeckt. Das wird der Altar. Jakob S. hat an Kerzen gedacht. Er bringt zwei Grablichte, eines rot eines weiß, sowie eine weitere Kerze. Schließlich stellt er uns noch Mohammed vor. Mohammed arbeitet bei den Maltesern. Ungefähr 20 Jahre alt, ist er vor 5 Jahren aus Syrien nach Deutschland gekommen. Da er perfekt Deutsch spricht, kann er im Bedarfsfall als arabischer Sprachmittler dienen.
15.00 Uhr
Sechs Kinder sitzen geduldig in der ersten Reihe auf ihren Stühlen. Vorher waren sie aufgeregt vor den Glastüren herumgewuselt und hatten durch die Scheiben gespäht, was wir da wohl vorbereiten. Jetzt sitzen sie vor uns und schauen uns mit großen Augen an, ohne jede Angst, einfach neugierig.
Jakob S. ruft zwei Mitarbeiter: Wir gehen noch einmal zu den Wohnblöcken. Vielleicht finden wir noch Leute. Warten Sie bitte zehn Minuten.
Damit musste man rechnen. In meinem Rücken suchen Paul und Mohammed auf ihren Handys nach einer arabischen Übersetzung von Lukas 2. Ich gehe zu den Kindern, frage nach ihrem Namen. Mohammed, Ali und Ess-Chen. So verstehe ich zumindest das Mädchen.
Sprecht Ihr Deutsch? Kopfschütteln. Englisch? Kopfschütteln.
Mittlerweile sitzen 10 Kinder dort, auch die Eltern sind dazugekommen. Ich frage, woher sie kommen. Kurdistan, Arbil. Wir schauen uns fragend an. Die Zeit bis 10 nach wird lang werden. Mir fallen die Kindergottesdienste in Minden ein. Was seinerzeit in einem westdeutschen gutbürgerlichen Vorort klappte, müsste auch hier funktionieren.
Ich frage: Engel? Sie schütteln den Kopf. Ich zeige nach oben: Gott! Sie nicken. Langsam fahre ich mit dem Finger schräg von oben nach unten und wackele mit den Armen: Engel. Sie nicken. Ich sage: Gloria. Und noch einmal: Gloria. Sie antworten: Gloria! Ich singe die erste Kantilene des Refrains von „Hört der Engel helle Lieder“: „Glo-o-o-o-o-o-“ und zeichne mit dem rechten Arm einen Flügel rechts von meinen Schultern. Die Kinder heben die Arme und formen ebenfalls einen Flügel. Zweite Kantilene: „o-o-o-o-o-“, dazu linker Arm. Einige Eltern singen mit. „In excelsis Deo“. Kinder und Eltern machen ein ratloses Gesicht. Aber sie klatschen mit den Silben mit, auch die Erwachsenen.
15.10 Uhr
50 Personen sitzen auf den Stühlen, viele junge Familien, die Hälfte Kinder. Weitere Gruppen tröpfeln durch die Eingangstür. Die MitarbeiterInnen schleppen Stühle herbei. Wir fangen an.
Ich rufe: „Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Paul übernimmt: „In the name of the Father, the Son and the Holy Spirit.“ Béatrice: „En nom du Père, du fils et du Saint Esprit.“ Ich schaue Mohammed an. Er beginnt mit einem Wort, das so klingt wie: „Bismillah“. Er bricht ab. Ich frage ihn leise: Muslim? Er nickt. Ich verstehe. Er möchte den Namen des Dreieinigen nicht aussprechen. Das wäre für einen Muslim eine Gotteslästerung. Nun gut, dann feiern wir eben im Namen Gottes. Die Weihnachtsgeschichte steckt voller verborgener Trinität.
Jetzt sind 70 Personen im Saal. Für meine Stimme ist das noch in Ordnung. Die ist das gewohnt. Die anderen haben das aber nicht gelernt. Ihre Stimmen erreichen allenfalls die ersten drei Stuhlreihen. Waltraud S. setzt ihre Sopranblockflöte an. Ein dünner Flötenklang zittert durch die Luft. Es wird still im Saal.
15.20 Uhr
Wir begrüßen die Besucher, fragen, woher sie stammen. Viele sind aus dem Irak, manche aus dem Iran und aus Afghanistan. Wir bräuchten jemanden, der Farsi spricht. Einige aus dem Libanon und sogar dem Balkan sind da. Die können oft Französisch. Nach den unterschiedlichen Konfessionen fragen wir schon gar nicht mehr. Das ist jetzt gar nicht entscheidend. Stattdessen: Wer ist hier Christ? Von den mittlerweile 100 Personen heben vielleicht 20 die Hände. Und wer ist Muslim? Fast alle Arme recken sich in die Luft.
Was machen wir hier vorne? Spielen wir hier ein religiöses Theater? Was machen die Menschen hier, die uns zuschauen? Sie sind mehrheitlich aus muslimischen Ländern mit islamistischer Herrschaft geflohen. Vermutlich haben sie von der fundamentalistischen Ideologie dort die Nase voll. Vielleicht sind sie auch religiös entwurzelt, auf der Suche. Ist es legitim, sie ihrer eigenen Tradition abspenstig zu machen? Hat unsere Feier nicht etwas Gewaltsames? Vielleicht sind die Menschen aber gar nicht so desorientiert, sondern einfach nur neugierig. Eine Sorge beschleicht mich. Sind hier vielleicht islamische Fundamentalisten?
Einige der Anwesenden könnten wir sogar provozieren. Was, wenn die zornig werden?
Ich schrecke auf und blicke in die Menge. Da waren doch auch 20 Christen. Die habe ich in meiner Fixierung auf die Muslime ganz vergessen. Unsere christlichen Geschwister brauchen uns. Für sie sind wir doch gerade hier. Sie erwarten von uns, dass wir zusammen mit ihnen die Geburt Jesu feiern.
15.30 Uhr
Paul, Béatrice und Mohammed tun ihr Bestes. Mit der arabischen Übersetzung dauert alles länger. Wir kürzen die Liturgie, verzichten auf den Psalm 24: „Machet die Tore weit, und die Türen in der Welt hoch.“ Mit den mittlerweile 150 Menschen singen wir noch einmal „Hört der Engel helle Lieder“ und wackeln beim Refrain mit den Armen. Beim Refrain der letzten Strophe fordere ich die Menge auf, im Stehen zu klatschen. Sie alle erheben sich. Ein Wald aus Armen, Männerarme, Frauenarme, Kinderarme, alles irgendwie und kreuz und quer, fragende und lachende Gesichter. Ich muss auf einen Stuhl springen, damit man mich bis hinten sehen kann.
Dann sitzen die Menschen wieder. Myriam kündigt an: Wir hören jetzt die Weihnachtsgeschichte. Viel zu leise. Johann tritt von hinten an mich heran und flüstert: Gleich kommt ein Megaphon.
Nach dem ersten Teil der Weihnachtsgeschichte, in Arabisch und Deutsch, und nur zum Teil in Englisch und Französisch gelesen, setzt sich Jacob ans E-Piano und beginnt sein Lied. Auch das E-Piano: viel zu leise. Und trotzdem, Menschen stehen auf, zücken ihr Handy und filmen. Als Jacob zu Ende ist, brandet Beifall auf. Die Stimmung ist gut.
Mittlerweile ist das Megaphon angekommen. Paul setzt an: „And there were shepherds …“. Der Umfeldmanager Jakob S. unterbricht: Wir müssen eine Pause machen. Vor der Hintertür stehen noch 100 Leute. Die müssen rein, sonst kommt es hinterher zu Streit. Und die Stühle müssen vernünftig stehen. Die Corona-Kohorten dürfen sich nicht mischen. Sagen Sie den Leuten, die sollen sich wenigstens vernünftig die Masken über die Nase ziehen!
Es wird laut. Weitere Stühle werden herbeigeschleppt, ihre Füße schrappen über den Boden, ein fröhlicher Lärm erhebt sich, die Menschen winken einander zu. Wenigstens haben sie jetzt ihre Masken auf. Die Kinder vorne sitzen geduldig und schauen uns mit großen Augen an.
15.40 Uhr
Wie können wir die Pause überbrücken? Singen. „Gloria“ können die Leute schon. Der nächste Viersilber, der mir einfällt, ist „Halleluja!“ Das geht nicht. Muslime können nicht den jüdischen Namen des Herrn anrufen. Der Advents-Kanon: „Mache dich auf und werde licht.“, könnte passen, so einfach wie der ist. Die Worte sind zu kompliziert.
Ich nicke Jacob zu, und der intoniert die D-Dur-Kadenz. Ich setze drauf die Töne des Kanons, mit den zwei universalen Silben: „Amen!“ Viermal „Amen!“, jedesmal eine Tonstufe höher, jedes Mal mit Klatschen unterlegt. Die Menschen klatschen mit.
Dann haben alle ihre Stühle. Es geht weiter. Paul hebt das Megaphon an den Mund, so wie seinerzeit zu Vor-Corona-Zeiten auf den Fridays-for-future-Demos und ruft in die Menge: „Peace on earth!“ Mohammed übernimmt. Jetzt dringen ihre Stimmen wenigstens bis zur Hälfte des Saals.
15.45 Uhr
Die Predigt wird denkbar kurz. Sie besteht aus drei Sätzen, jeweils in alle Sprachen übersetzt und gestisch unterstützt.
Erstens: Weihnachten heißt: Gott vom Himmel – Finger zur Saaldecke – kommt auf die Erde – Finger nach unten. Alle Köpfe nicken.
Zweitens: Wenn Gott vom Himmel – Finger zur Saaldecke – zur Erde – Finger nach unten – kommt, dann kommt er – mit dem Finger auf die Menschen gezeigt – zu jeder und jedem Einzelnen von uns. Wieder Nicken.
Drittens: Wenn Gott vom Himmel – Finger nach oben – zur Erde – Finger nach unten – und zu jedem Menschen persönlich – Finger auf die Menschen – kommt, dann – die beiden Hände ineinander gefaltet – wird Frieden. Noch zufriedeneres Nicken.
Die Predigt endet mit einer Art Spiel. Der Hauptmann macht vor, die Bande macht nach. Ich wackele mit den Armen und sage: Die Engel rufen Frieden! Ich rufe: „Frieden!“ Die Menschen antworten: „Frieden!“ Paul ruft durchs Megaphon. „Peace!“, die Menge ruft: „Peace!“, Béatrice: „La paix!“, die Menge: „La paix!“, Mohammed: „Salam“, alle ganz laut: „Salam!“ Ich beende die Predigt mit: „Salam aleikum!“ Alle lachen und donnernd kommt der Ruf zurück: „Salam aleikum!“.
15.50 Uhr
Jakob S. tritt zu mir: Wir müssen das Ganze schnell beenden, das wird wegen Corona immer problematischer. Spätestens 16 Uhr. Und die Kekse können wir nicht am Ausgang austeilen. Das gäbe ein großes Gedränge. Außerdem wäre das nicht gerecht. Da kriegt eine Familie am Anfang drei oder mehr Beutel, und eine andere Familie gar nichts. Eine andere Mitarbeiterin kommt dazu: Wir verteilen die Kekse nachher in Ruhe auf den Zimmern. Das ist schade für Emily. Sie wird keine Kekse schenken können.
- Uhr, das sind zehn Minuten. Wir schauen uns an. Das schaffen wir. Das letzte Lied und die Fürbitte werden rausgekickt. Bleiben nur noch Vater Unser und Segen. Zum Vater Unser erhebt sich die Menge. Ich klettere wieder auf einen Stuhl. Laut klingt das Vater Unser nicht, das wir sprechen. Wir Christen sind ja die Minderheit. Dennoch erhebt sich das Gemurmel der Stimmen wie ein großes tiefes Summen. Jeder spricht es in seiner Muttersprache. Wie viele Sprachen werden es sein, wird jemand es in Aramäisch sagen, mit denselben Worten wie Jesus? Ich segne im Namen des Dreieinigen Gottes und schlage das Kreuz, wie immer.
Stille.
Ein Mann ruft von hinten: Allahu akbar! Eine Bestätigung, oder ein Protest?
16.00 Uhr
Ende. Ich steige vom Stuhl. Die Menschen setzen sich. Wir Mitarbeiter stehen zusammen, schauen in den Saal. Die Besucher wollen nicht gehen. Die MitarbeiterInnen der Malteser gehen zu den Menschen und fordern sie auf. Der Saal muss geleert sein, damit die Tische für das Abendessen wieder aufgestellt werden können. The show must go on. Die Erde dreht sich ja weiter. Allmählich erheben sich die Menschen. Wir eilen zu den verschiedenen Ausgängen. Die Menschen strömen an uns vorbei. Einige rufen fröhlich: Merry christmas!, andere: Joyeux Noel!, einer sagt: Buon Natale!, und stellt sich vor. Er kommt aus Bosnien Herzegowina. An der hinteren Tür steht Johann. Eine Frau kommt auf ihn zu und bittet ihn um Auskunft. Sie heißt Iva. Iva und ihr Mann kommen aus Mazedonien. Sie fragt Johann, ob er weiß, wie lange sie noch bleiben muss. Johann kommt ja von außerhalb der ZUE. Vielleicht weiß er, was die Mitarbeiter hier vor Ort nicht wissen. Ihr Kind kommt bald zur Welt, noch drei Monate. Die Hygiene in der Unterkunft ist dürftig, erzählt sie. Johann kann ihr keine Antwort geben.
Einige stellen sich neben Emily und mich und machen ein Selfie mit uns. Andere drücken ihren Familienangehörigen das Handy in die Hand und lassen sich mit uns fotografieren.
Der Saal ist leer. Die MitarbeiterInnen haben schon angefangen, die Stühle zusammenzurücken. Jakob S. kommt zu uns, wir bilden einen Kreis. Jakob S.: Sie können an Ostern wiederkommen. Dann benötigen wir eine bessere Technik und ein vernünftiges Schutzkonzept. Textzettel wären sinnvoll, auch mehr Sprachmittler für die asiatischen Sprachen. Wir fragen: Könnten wir auch regelmäßig eine Kindergruppe anbieten, Geschichten erzählen und Lieder singen? Jakob S. zögert. Das muss die Bezirksregierung entscheiden. Wir bleiben in Kontakt.
16.15 Uhr
Wir steigen ins Auto. Waltraud S. ist schon fort. Während unser Bulli an den großen Kasernengebäuden vorbei über den Appellplatz zur Schranke rollt, sehen wir die Bewohner hinter den hell erleuchteten Fenstern ihrer voll belegten Zimmer. Mir tut die Kehle weh. Gleich unter dem Tannenbaum wird die Familie lauter singen müssen. Die Bewohner werden vermutlich heute Abend noch ein kleines Päckchen Spekulatius und Spritzgebäck auf ihrem Bett vorfinden. Eine Tüte pro Familie. Währenddessen werden wir zuhause unsere Geschenkeberge auspacken, bevor es zum leckeren Abendessen geht.
Januar 2022
Niemand ist über Weihnachten in der ZUE an Corona erkrankt, es hat keinen Massenausbruch der Pandemie gegeben. Das erzählt mir Jakob S. am Telefon. Und, ja, wir können gerne wiederkommen.
Ich möchte gerne zurück in die ZUE, zurück zu den Kindern Ali, Mohammed und Ess-Chen. Das stimmt nicht. Natürlich möchte ich die drei dort nicht mehr in der ZUE Soest sehen. Vielmehr hoffe ich, dass sie dann schon längst mit ihren Eltern einer Kommune in NRW zugewiesen worden sind und dort in eine ordentliche Schule gehen können.
Die ZUE Soest wird dann bestimmt nicht leer sein, genauso wenig wie die ZUE in Möhnesee-Echtrop, die verloren auf der Höhe der Haar über der Soester Börde liegt, weitab vom Schuss und vergessen von der Welt. Oder wie die ZUE in Wickede-Wimbern im Ruhrtal. Ich weiß, dass meine PfarrkollegInnen zu den Menschen dort Kontakt aufgenommen haben. Das ist ein gutes Gefühl. Und zugleich ist doch klar: das ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Eines weiß ich aber heute gewiss. Ich möchte die NachfolgerInnen von Ali, Mohammed und Ess-Chen treffen. Derzeit treiben sie auf dem Mittelmeer, oder stehen an der Reling von Seawatch 4, die kleine Hand in der großen Hand ihrer Eltern, und den Blick über das Wasser auf einen südeuropäischen Hafen gerichtet.
Mit ihnen möchte ich gerne ein lautes Osterlachen anstimmen.
Plätzchen backen
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